Avantgardistischer Zauber
aus dem Funkhaus
Über vier Jahrzehnte nach dem Konzert des ersten Keith Jarrett-Trios in Hamburg
bringt eine neue CD diesen fulminanten Auftritt endlich in Erinnerung. Aufnahme- und
Bandqualität der alten NDR-Produktion machten ein sorgfältiges Mastering notwendig.
Heraus kam eine atemberaubende CD
A
m 14. Juni 1972 tra t Jarrett z u -
sa m m e n m it C h arlie H a d e n
u n d P aul M o tia n im R ah m en
des N D R -Jazzw orkshops v o n M ichael
N aura auf die B ühne des Funkhauses an
der R othenbaum chaussee. Ein Trio, das
Jarrett schon w ährend seiner Zeit beim
C harles Lloyd Q uartett 1966 gegründet
hatte. O bw ohl erst 21 Jahre alt, gelang
es ih m , zw ei etab lierte R e p rä se n ta n -
ten sch ein b ar völlig w idersp rü ch lich er
Jazz-Idiom e an sich zu binden. D er vor
d rei Ja h re n v ersto rb e n e S chlagzeuger
P aul M otian gehörte zum stilbildenden,
co o l-m o d alen U r-T rio v o n Bill Evans,
C harlie H ad e n h in gegen zu r R evoluz-
zer-T ruppe O rnette C olem ans.
W äh ren d der Jazz in seinem eigenen
G eburtsland drohte, vor Folk, Rock und
Fusion zu kapitulieren, die G iganten der
US-Jazz-Szene zu W ohlfahrtsem pfängern
w u rd e n , w en n sie n ic h t längst U n te r-
schlupf in europäischen Jazz-Clubs gefun-
den hatten, versuchte ein blutjunger Tas-
tenzauberer m it A fro-Frisur und exaltier-
ter B ühnenshow , das schier U nm ögliche,
RI IIH J AMI III I
CMAiUlf MAOFN
PAUL MOTIAN
H A M B U R G *72
CCM
ü v « flaco rd in o
Ikonografisches Layout und epochaler Inhalt:
Die brandneue ECM-CD (Spielzeit 52 Minuten) ist
ab 21. November erhältlich.
die A ntipoden-B otschaften von Bill Evans
u n d O rnette C olem an zusam m enzufüh-
ren, aus ih n en eine völlig neue M usik zu
destillieren. Ganze drei Platten spielte das
Trio für das Label A tlantic bis 1970 ein,
bevor es durch den T enorsaxophonisten
D ew ey R edm an zum Q u artett erw eitert
w urde, das in den folgenden vier Jahren
einige aufregende A lben für Im pulse und
für ECM produzierte.
R edm an, ebenfalls langjähriger Side-
m an von C olem an, beide w u rd en vom
Jazz-P ap st Jo ach im E rn st B e h re n d t
bei d en B erliner Jazztagen 1971 als die
A vantgarde schlechthin angekündigt, ver-
lieh d em Jarrett-Q u a rte tt zw eifelsohne
Substanz, wie auch die zeitweise hinzuge-
zogenen Gastm usiker. Trotzdem hatte das
Trio einen ganz besonderen puristischen
Reiz. V or allem auch, weil es Jarrett m ehr
Freiraum für seine ausgesprochen expres-
siven Ausflüge auf dem S opransaxophon
bot. Dies findet in dem bisher unveröf-
fen tlich te n H a m b u rg e r K o n ze rt seine
frappierende Bestätigung, m ehr noch als
bei den zuvor erw ähnten am erikanischen
P lattenproduktionen.
Als ob die H am burger Brise einen Ener-
giestrom entfesselt hätte, spielen die drei
m it ein er u n g la u b lic h en F risch e u n d
Leidenschaft. Jarrett beginnt m it „Rain-
bow “, ein er K om position seiner ersten
Frau M argot, bei der sich der H örer noch
auf der sicheren Seite w ähnt. Liedgut im
Stil des A m erican Songbooks, das Jar-
rett gegen Ende m it einem Klanggewitter
Groove und Ekstase: Nicht nur am geliebten Flügel, auch mit Sopransaxophon und Flöte w eiß Keith Jarrett zu beeindrucken
138 STEREO 12/2014